Das Duell der Alphatiere

Anna Kappeler | 
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Kreuzten im SN-Interview die Klingen: Christoph Blocher (l.) und Pascal Couchepin. Bild: Selwyn Hoffmann

Beide treibt die Beziehung Schweiz–EU seit Jahrzehnten um, schon in der gemeinsamen Bundesratszeit 2003–2007 stritten sich Pascal Couchepin und Christoph Blocher herzhaft darüber. Auch im SN-Streitgespräch gehen bisweilen die Wogen hoch.

Herr Blocher, Sie sind aus dem Nationalrat zurückgetreten, um gegen eine Annäherung der Schweiz an die EU zu kämpfen. Was tun Sie, wenn die Schweiz der EU beitritt?

Christoph Blocher: Tja, dann tritt sie bei. Nur: Dann bedaure ich dies für die Schweiz, denn es wird mit ihr bergab gehen. Die Schweizer werden sich dann an schlechtere Verhältnisse gewöhnen müssen.

Ihre Welt ginge nicht unter?

Blocher: Den Weltuntergang haben wir nicht in den Händen. Die Schweiz aber wäre nicht mehr die Schweiz. Gefährlich ist aber zurzeit das Rahmenabkommen mit institutioneller Bindung. Damit würden wir uns verpflichten, Gesetze der EU zu übernehmen – ohne zu bestimmen. Im Streitfall entschiede der Europäische Gerichtshof (EuGH). Wir gäben die Souveränität weitestgehend auf und ketteten uns an die EU. Das will ich verhindern.

Herr Couchepin, Sie erachten einen EU-Beitritt als fernes, aber wünschbares Ziel. Warum eigentlich?

Pascal Couchepin: Wünschbar ist nicht richtig. Ich sage lediglich, dass es möglich ist, dass wir einmal beitreten werden. Ich habe keine Angst vor der EU, weil ich in meiner Identität als Schweizer selbstsicher bin. Zudem bin ich auch Europäer. Für mich ist es wichtig, dass wir unser Verhältnis mit der EU ständig weiterentwickeln, um engere Beziehungen zu schaffen. Aber jetzt über einen EU-Beitritt zu sprechen, obwohl die EU in grossen Schwierigkeiten ist, wäre wagemutig. Wir sollten mit einer Beitrittsdiskussion warten, bis sich die EU als Institution stabilisiert hat. Wann das ist und ob überhaupt, weiss ich nicht. Aber ich bin für Offenheit. Politik ist nicht dazu da, um Türen zu schliessen. Natürlich soll man auch nicht in jede Tür ­eintreten – aber sich die Möglichkeit dazu ­offenlassen. Herr Blocher und ich sind alt und werden den Beitritt wohl nicht mehr erleben – aber wir sollten unseren Kindern die Möglichkeit lassen, selbst zu entscheiden.

In den letzten Jahren war man doch mehrmals froh, nicht in der EU zu sein?

Couchepin: Wir waren aber auch froh, dass wir gute bilaterale Verträge mit der EU haben. Ich bin froh, Schweizer zu sein, aber nicht froh darüber, nicht EU-Mitglied zu sein. Ich bin vor allem froh, dass wir gute Verhältnisse mit der EU haben.

Haben wir gute Verhältnisse mit der EU?

Blocher: Ja, natürlich. Offene Türen und ein freundschaftliches Verhältnis zur EU sind gut und recht. Nur: Wo ist die Grenze bei der Türöffnung? Auf jeden Fall dürfen wir unsere Handlungsfreiheit nicht aus den Händen geben – das Selbstbestimmungsrecht ist auch ein Menschenrecht. Die Schweiz ist ein Sonderfall, weil bei uns die Bürgerinnen und Bürger die oberste gesetzgebende Gewalt sind. Das ist eine Stärke der Schweiz.

Couchepin: Die EU ist doch kein Gefängnis! Das haben wir am Beispiel der Briten und ihrem Brexit gesehen. Ob deren Entscheidung richtig war, liegt nicht an mir zu beurteilen. Ich weiss aber, dass wir über unser Verhältnis zur EU immer wieder neu diskutieren müssen. Und bezüglich Demokratie habe ich einige grundlegende Differenzen zu Herrn Blocher: Für mich besteht der Souverän nicht nur aus dem Volk und den Ständen. Teil unseres Demokratieverständnisses ist auch die Gewaltentrennung. Die Gerichte haben eine grosse Wichtigkeit. Das ist das Problem von Herrn Blocher und seinen Leuten: Sie betrachten die Souveränität des Volkes als absolut und als etwas, das sogar die Gewaltentrennung aushebeln kann. Für mich entscheidet das Volk über die Organisation des Landes, aber nicht über Einzelfälle. Wir wollen in der Schweiz so viel Demokratie wie möglich, aber wir wollen auch die Gewaltentrennung. Herr Blocher hat ein Problem damit. Er betrachtet die Gewaltentrennung als zweitrangig.

Blocher

Sind Sie gegen die Gewaltentrennung, Herr ­Blocher?

Blocher: Das ist eine Unterstellung. Die Gewaltentrennung ist zu respektieren, aber sie rechtfertigt nicht, die Bundesverfassung nicht zu respektieren. Der oberste Gesetzgeber der Bundesverfassung ist in der Schweiz die Mehrheit der Stimmbürger und die Mehrheit der Kantone. Für Bundesgesetze ist das Volk der oberste Gesetzgeber. Das sind ernst zu nehmende Staatsgewalten. Das Parlament ist eine weitere wichtige Instanz – aber es darf sich nicht über Volksentscheide erheben. Auch die Gerichte haben ihre wichtige Funktion, wie auch die Exekutive. Alle diese Gewalten haben ihre Schranken, auch das Volk – beispielsweise im zwingenden Völkerrecht. Warum verteidige ich die direkte Demokratie? Weil die Schweiz seit 150 Jahren gute Erfahrungen damit gemacht hat. Das Volk hat viel Unsinn verhindert und eine bremsende Wirkung auf Gesetzesflut und Staatsausgaben. Das wird auch Herr Couchepin als liberaler Mensch so sehen müssen. Zurück zur EU: Der Bundesrat wollte bekanntlich in den EWR, um dann der EU beizutreten. Das hat der Volksentscheid verhindert. Das Volk hat erkannt, dass die EU für uns Schweizer eine Fehlkonstruktion ist. Das gilt auch für die Personenfreizügigkeit.

Couchepin: Mit der Behauptung, die EU sei eine Fehlkonstruktion, wäre ich vorsichtig.

Blocher: (unterbricht) Das ist meine ­­Meinung …

Couchepin: (unterbricht) Sie können Ihre Meinung haben, ich sage Ihnen aber: Die EU läuft. Natürlich häuft sich Krise auf Krise, aber die EU ist eine Meisterin darin, Krisen zu bewältigen. Auch die Schweiz hatte nach dem Befreiungskrieg vom Sonderbund einige Jahrzehnte ihre Schwierigkeiten, aber dann hat sie sich etwa dank der Einführung neuer Rechte stabilisiert. Und natürlich bin ich als FDPler und folglich Gründer der Schweiz begeistert darüber, wie die Schweiz funktioniert. Doch ich widerspreche: Das Volk ist nicht der Gesetzgeber, es kann ein Gesetz annehmen oder ablehnen, aber es nicht selbst machen. Nach dem EWR-Nein hat die Schweiz nach zwei Jahren der Verzweiflung ja dann doch 80 Prozent des EWR-Vertrags umgesetzt. Ohne institutionelle Änderung. In der Geschichte gibt es immer wieder Ereignisse, die man bedauern kann, aber es geht trotzdem weiter.

Blocher: Hier haben Herr Couchepin und ich eine fundamental andere Meinung. 1992 hat die Schweiz darüber abgestimmt, und bei einer Rekordstimmbeteiligung von fast 80 Prozent hat sich die Mehrheit gegen den EWR-Beitritt entschieden. Diese Mehrheit ist zu respektieren. 1992 war die Schweiz zerrissen, etwa 49 Prozent wollten damals die Souveränität preisgeben. Heute will kaum mehr jemand in die EU. Nicht einmal mehr Herr Couchepin.

Couchepin: Das ist so, ja.

Blocher: Die Schweiz braucht keine Anbindung an die EU. Heute weiss niemand, in welche Richtung sich die EU bewegen wird. Der Austritt Grossbritanniens ist nicht einfach ein Unglücksfällchen, sondern fällt ins Gewicht: Die Briten sind ein bedeutender Mitgliedsstaat und die zweitgrössten Zahler der EU. Griechenland und Italien sind wirtschaftlich auf die Bezahlung der reicheren Staaten angewiesen. Für sie ist der Euro als Währung zu schwer, für Deutschland ist er zu leicht. Und warum sollen wir Schweizer uns jetzt an diese EU anketten? Wir haben keine neuen Verträge nötig, schon gar nicht solche, die uns in die EU führen. Sonst können unsere Enkel nicht mehr frei entscheiden, ob die Schweiz unabhängig sein kann.

Couchepin: Darf ich auch wieder ­einmal ­etwas sagen? Sonst kann ich auch gehen …

Couchepin

Bleiben Sie bitte. Der Bundesrat will bis Ende Jahr das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU verabschieden, das ist innen­politisch höchst umstritten. Was halten Sie als alt Bundesräte von diesem Zeitplan?

Couchepin: Die EU ist in Bewegung und muss neue Wege finden. Ob man mit einem Partner diskutieren soll, der in Schwierigkeiten ist, ist umstritten. Die EU braucht ihre Kräfte für die Verhandlungen mit Grossbritannien, für uns hat sie aktuell keine Zeit. Trotzdem sollten wir den Kontakt beibehalten. An sich ginge damit eine Vereinfachung der schon existierenden Verträge mit der EU einher, das ist also nicht per se dumm.

Aber?

Couchepin: Aber der genaue Inhalt ist unklar. Sehen Sie, der Bundesrat hat Ziele. Ob sich diese in der gesetzten Zeit umsetzen lassen, ist eine andere Sache. Ich habe den Eindruck, der Zeitplan ist ehrgeizig. Nur so viel: Der Rahmenvertrag ist eine zeiteffiziente Vereinfachung der Prozeduren. Ich bin nicht dagegen.

Blocher: Der Bundesrat und das Parlament haben ein Verhandlungsmandat verabschiedet, in dem sie sich bereit erklären, EU-­Gesetz automatisch zu übernehmen. Ob die Schweizer dies wollen oder nicht. Weigert sich die Schweiz, gibt es Sanktionen der EU. Die EU nennt das Ausgleichsmassnahmen. Und der EuGH – also fremde Richter – würde entscheiden.

Couchepin: Wir müssen hier eine Lösung finden, bei der wir die Freiheit behalten, Nein ­sagen zu können. Aber wir können natürlich nicht EU-Recht übernehmen und dieses dann nach unserem Gusto interpretieren. Das akzeptiert niemand.

Blocher: Hier sind wir uns einig. Und deshalb will ich das EU-Recht gar nicht erst übernehmen. Die EU will das, und unser Bundesrat macht mit. Ich nicht. Abhilfe schafft hier die «Fremde Richter»-Volksinitiative.

Couchepin: Wenn man fremdes Recht übernimmt, wird es teilweise zum eigenen Recht. Wenn wir etwa einen Vertrag mit der Welthandelsorganisation übernehmen, akzeptieren wir fremdes Recht. Das ist für mich kein Problem.

Verhandeln die heutigen Bundesräte hart und clever genug? Hat die EU uns nicht ­gezeigt, wie man auf Verhandlungsbegehren reagiert? Mit einem knappen Nein …

Couchepin: Nun, beim Rahmenabkommen hat der Bundesrat ein Verhandlungsmandat. Ob man dieses ändern soll, liegt nicht mehr an mir zu entscheiden.

Blocher: Das Mandat war falsch. Wir hätten der EU sagen sollen und sagen können, dass wir keine Abkommen wollen, die uns institutionell binden und die direkte Demokratie ausschalten.

Couchepin: Was heisst institutionell? Das ist ein Begriff, der nicht definiert ist.

Blocher: (unterbricht) Wir können den Begriff ja ausdeutschen …

Couchepin: (energisch zu Blocher) Lassen Sie mich ausreden! (zur Journalistin) Sie müssen führen!

Ich lasse Sie bewusst etwas reden …

Blocher: Ich komme ja kaum zu Wort.

Couchepin: (ungläubig) Sie?

Blocher: (lacht) Ja, Sie sind zu dominant!

Couchepin: Wir sind wohl wirklich das, was man Alphatiere nennt. (lacht auch)

Blocher Couchepin

Gehen wir einen Schritt weiter: Ist der bilaterale Weg in der Schweiz sakrosankt?

Couchepin: In der Politik ist nie etwas sakrosankt. Bis jetzt ist dieser Weg ein guter, den wir weitergehen sollten. Das sieht auch das Schweizervolk so. Vielleicht ist dieser Weg ­irgendwann nicht mehr möglich, weil die EU keine bilateralen Verträge mehr eingeht. Bis es aber so weit ist, verhandeln wir weiter.

Blocher: Seit 700 Jahren machen wir bilaterale, also zweiseitige Verträge. Heute wissen wir: Der bilaterale Weg funktioniert sehr wohl. Wir von der SVP sind für den bilateralen Weg, aber nicht für jeden bilateralen ­Vertrag.

Couchepin: Ich auch nicht.

Blocher: Wir beide haben die grosse Differenz bei der Personenfreizügigkeit. Rein juristisch würden dann wegen der Guillotine­Klausel auch sechs andere Verträge hinfällig. Das ist in Kauf zu nehmen, auch wenn es nicht das Ziel ist. Und die EU wird dann auch nachgeben – weil sie ein immenses Interesse an den anderen Verträgen hat.

Herr Couchepin, einverstanden, dass die EU nachgeben würde?

Couchepin: Ich weiss im Gegensatz zu Herrn Blocher nicht, was die EU machen würde. Er behauptet, die EU würde akzeptieren, was er will. Das ist ein wenig wagemutig.

Blocher: Bei jeder Verhandlung überlege ich, was das Interesse der Gegenseite ist. Selbst Angela Merkel hat nach dem Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative erklärt, dass man deswegen die anderen Verträge nicht fallen-lassen würde, weil es nicht im Interesse der EU sei.

Couchepin: Nach diesem Ja waren wir in Schwierigkeiten. Dank der intelligenten Lösung des Parlaments konnten wir diese lösen – weil wir die Personenfreizügigkeit mit der EU nicht angreifen.

Der Widerspruch in der Schweizer Verfassung bleibt. Das Ja zum Zuwanderungsartikel zeigt, dass das Volk beides will: Bilaterale und Kontingente. Wie diesen Widerspruch auflösen?

Couchepin: Der Beweis, dass dieser Widerspruch wenigstens kurzfristig annehmbar ist, ist der, dass die SVP nicht das Referendum gegen die Parlamentsumsetzung ergriffen hat. Die SVP scheint zumindest provisorisch einverstanden zu sein mit der Umsetzung.

Blocher: Nein, denn die Verfassungsbestimmung bricht mit dem Prinzip des freien Per­sonenverkehrs.

Couchepin: Warum haben Sie das nicht bereits im Abstimmungskampf gesagt?

Blocher: Habe ich, immer. Dieser Widerspruch mit der EU hätte aus dem Weg geräumt werden müssen. Die EU aber hat gesagt, wir verhandeln nicht – entgegen ihrer Vertragsverpflichtung. Und warum wir kein Referendum ergriffen haben, kann ich Ihnen auch sagen: Wenn ein Referendum gegen ein neues Gesetz ergriffen und dieses neue Gesetz dann abgelehnt wird, dann gilt noch immer das bisherige Gesetz. Es hätte sich also gar nichts am Widerspruch geändert!

Couchepin: Die wahre Begründung ist doch: Sie wollen gar keine Diskussion über die Personenfreizügigkeit mit der EU, weil sie diese verlieren würden.

Blocher: Sie werden mir zugestehen, dass ich meine Begründunggründe besser kenne.

Couchepin: Jaja, das ist jetzt protokolliert. Aber ich kenne die Politik gut genug, um jemanden interpretieren zu können. Wenn wir Zugang zum europäischen Binnenmarkt wollen, können wir doch nicht einen der Grundpfeiler der EU – eben die Personenfreizügigkeit – kündigen.

Herr Blocher, wenn Sie den Fall der Personenfreizügigkeit in Kauf nehmen, müssten Sie dann nicht auf den Zugang zum euro­päischen Binnenmarkt verzichten?

Blocher: Nein, für den Zugang zum Binnenmarkt ist das Freihandelsabkommen aus den 70er-Jahren entscheidend. Und nicht die Bilateralen I. Wir sind nicht Mitglied des Binnenmarktes und wollen es auch nicht sein. Sonst müssten wir ja alle Gesetze des Binnenmarktes übernehmen. Wir wollen und haben Zugang zum Binnenmarkt, aber keine Mitgliedschaft.

Couchepin: Was ist der Unterschied? Ich will Zugang zum Binnenmarkt, dafür akzeptiere ich einige Bedingungen der EU wie eben die Personenfreizügigkeit.

Blocher: Deutschland etwa ist nicht Mitglied des schweizerischen Binnenmarktes, aber hat den vollen Zugang. Das ist der Unterschied: Wer im Binnenmarkt ist, muss die Binnenmarktgesetzgebung übernehmen. Und: Auch ohne Personenfreizügigkeit kann man Zugang zum Binnenmarkt haben.

Couchepin: Nein, das ist nicht möglich. Der Zugang hat seine Kosten. Wobei die Personenfreizügigkeit für mich keine Kosten sind, sondern ein Vorteil.

Abschliessende Frage: Gibt es den freien Personenverkehr in zehn Jahren noch?

Couchepin: In zehn Jahren sind wir wahrscheinlich beide tot.

Blocher: Also ich werde in zehn Jahren erst pensioniert. (lacht)

Eine Haltung dazu werden Sie wohl gleichwohl haben?

Blocher: Zum heutigen Zeitpunkt weiss das niemand. Wir wollen, dass man in der Schweiz Leute aus dem Ausland anstellen kann, wenn man sie braucht und in der Schweiz nicht findet. Aber die Masseneinwanderung ist zu verhindern.

Couchepin: Das ist nicht mehr meine Sorge. Aber für meine Kinder und Enkel bleibt die Personenfreizügigkeit auch in zehn Jahren noch wichtig. Ob es sie dann noch geben wird, on verra.

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