«Ich fixiere das Objektiv mit Klebeband»

Jeannette Vogel | 
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Die Aufnahme der heissen Quelle Grand Prismatic Spring im Yellowstone-Nationalpark entstand im Mittagslicht. Bild: Key / Georg Gerster

Georg Gerster ist ein Schweizer Pionier der Flugfotografie. Durch Aufnahmen von Unesco-Weltkulturerbe-Stätten hat er internationale Bekanntheit erlangt. Seine Flugbilder sind weltberühmt – die Swissair-Kalender mit seinen Bildern waren Kult. Die Swissair-Plakate sind nach wie vor begehrte Sammelobjekte.

Zu seinen Ausrüstungsgegenständen gehören Gesichtsmaske, Fingerhandschuhe aus Seide, Klebeband und ein Kreuzschraubenzieher. In der dreissig Kilogramm schweren Ausrüstung von Georg Gerster befinden sich aber auch Fotoapparate, bis zu zehn Stück. Er war es, der die Luftaufnahme zum Flugbild machte. Die Gesichtsmaske schützt den Winterthurer Fotografen vor der Kälte im offenen Flugzeug, ebenso wie die Seidenhandschuhe, mit denen er seine Kameras bedient. Mit dem Schraubenzieher hingegen hat er bereits in den Sechzigerjahren Fenster von Cessnas aufgeschraubt und sie mit Klebeband fixiert. «Noch besser ist es, die Tür wegzunehmen», sagt Gerster, «das war zwar nicht erlaubt, aber ich hab’s trotzdem gemacht.»

«Wir konnten immer etwas schaukeln.»

In den Siebzigerjahren in Santiago de Chile hat er eine ausgebaute Tür neben die Startbahn gelegt. Der aufmerksame Tower hat aber bemerkt, dass die Tür fehlt, und den Start nicht freigegeben: «Sagen Sie ihm, Sie hätten einen Schweizer an Bord, der an Klaustrophobie leide», wies Gerster den Piloten an, «dann lässt er uns vielleicht abfliegen.» Es gelang. «Wir konnten immer etwas schaukeln», erinnert sich Gerster. So auch Anfang der Achtziger in Japan. «Beim Anflug auf Osaka sah ich einen wunderbaren Ort mit alten Gräbern; diesen wollte ich fotografieren.» Nach einem Hinweis seitens des Piloten, dass die Ausrüstung von Gerster vollständig in Japan hergestellt worden sei, bekam er zehn Minuten.

 

Georg Gerster in seinem riesigen Archiv. Bild: Key

«Ich bewegte mich oft am Rand des Erlaubten», so Gerster. Reden half – auch der Flughafen Kloten liess sich gelegentlich erweichen –, es waren aber zum Teil bedeutend mehr Überredungskünste nötig, oft hiess es: «Das geht nicht.» – «In der Schweiz ist man ständig unter Kontrolle, in den USA war es viel einfacher, auch im Flugkorridor von Los Angeles.» Das sei kein Wunder, schliesslich sei die Schweiz ein kleines Land, sagt Gerster: «Wenn es aus dem Lautsprecher schallt: ‹Wir landen in fünf Minuten›, sind wir immer noch im Ausland.» In mehr als 100 Ländern hat er fotografiert, trotzdem lässt ihn sein Heimatland nicht los – von Schweizer Aufnahmen hat er immer geträumt: «Die Weinberge bei Lausanne habe ich einmal in einem unglaublichen Licht gesehen.» Genau so ein Bild wollte er schiessen: «Ich habe zwar zwei, drei Anläufe genommen, ich hab’s probiert, aber es wurde nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.»

«Ich muss mit den vorhandenen Bildelementen spielen.»

Seine Beziehung zu Schaffhausen ist eng: «Mein Bruder war Zeichenlehrer an der Kanti.» Gerster hat jeweils die Ausstellungen seines Bruders Albert besucht, dieser war auch Künstler. Er hat ein breit gefächertes Oeuvre an Zeichnungen, Malereien, Grafiken und Buchillustrationen hinterlassen. Schaffhausen habe er auch gelegentlich fotografiert, zu einer Veröffentlichung dieser Bilder sei es aber nie gekommen, sagt Gerster.

Mit dem Vorhandenen spielen

Flugbilder haben ihre Tücken – die Schärfe ist dabei das kleinste Problem: «Ich fixiere das Objektiv in der Unendlichstellung mit Klebeband.» Als Verschlusszeit nimmt er meist eine Fünfhundertstelsekunde. Das Bild arrangieren kann er nur bedingt: «Ich muss mit den vorhandenen Bildelementen spielen. Wenn eine Strasse oder eine Hecke ‹falsch› liegt, probiere ich so lange, bis es ästhetisch für mich stimmt.» Gerster geht es weniger dar­um, ob das Morgen- oder das Abendlicht besser ist, es geht ihm darum, dass der richtige Sonnenstand die Schatten moduliert – indes: «Ich hab mich auch schon verrechnet.» In Syrien machte er innerhalb von 20 Tagen 20 Flüge, dabei hielt er sich zuerst an die «Je früher, desto besser»-Regel. «Aber als beim ersten Flug die Mannschaft gute zehn Minuten zu spät kam, sagte ich ihn ab.» Es habe ihm fast das Herz eingedrückt: «Ich wusste nicht, ob ich dort überhaupt wieder zum Fliegen komme», so Gerster. Doch keiner war nachtragend, und die Mannschaft gewöhnte sich rasch an die frühen Flüge. Einmal hatte er ein römisches Theater im Visier und setzte den Flug erst auf 11 Uhr an: «Mais c’est trop tard, Monsieur», sagte seine Mannschaft unisono. Doch es war immer noch zu früh, erinnert sich Gerster.

Ein Foto, das häufig publiziert wird, ist «Grand Prismatic Spring». «Diese heisse Quelle im Yellowstone-Nationalpark ist unglaublich farbig», sagt Gerster. Um sieben Uhr morgens war jedoch durch die kalte Luft, die Nebel verursachte, von dieser Farbenpracht nichts zu sehen. Erst im Mittagslicht entstand das berühmte Bild.

Fotograf und Journalist

Höhe schafft Übersicht, Übersicht erleichtert Einsicht, und Einsicht erzeugt – vielleicht – Rücksicht, schreibt Gerster. Er ist nicht nur Fotograf, sondern auch Journalist. Ab und zu kommt es vor, dass er auf die Swissair-Plakate, die heute begehrte Sammel-objekte sind, reduziert wird. Das stört ihn nicht, indes: «Grundsätzlich braucht ein Bild Worte und Erklärungen – erst dann wird es das, was es sein soll», sagt Gerster. Ein Bild ohne Text führe zu Interpretationen. Etwa das berühmte Kriegsbild von Robert Capa – es kann sowohl für Kriegs- als auch für Antikriegspropaganda verwendet werden. «Auch bei dem, was unter oder über meine Bilder geschrieben wird, sträuben sich mir oft die Nackenhaare.» Er erinnert sich an eine Aufnahme aus Mali – Frauen suchen auf einem ausgetrockneten See nach Nahrung: «Das schreit doch geradezu nach Entwicklungshilfe», sagt Gerster – eine Hilfsorganisation trieb dann mit seinem Bild auch Spenden ein. In Wirklichkeit zeigt das Bild aber eine enge ökologische Nische: «Nach Knollen zu graben, ist dort ein normaler Vorgang.»

«Ich habe immer versucht, Zweideutigkeiten zu vermeiden, darum schreibe ich die Texte am liebsten selber», so Gerster. Was er hingegen nicht verhindern kann, ist das Vagabundieren seiner Bilder im Internet: «Es sind so viele. Es gibt auch kein Buch, das dick genug wäre, alle veröffentlichten Bilder zu erfassen.» Viele Fotos wirkten erst durch eine gewisse Grösse: «Wenn ich Bilder ausstelle, dann Grossformate. Erst dann sind die Weitsicht und die Detailgenauigkeit da.»

«Früher wurden meine Bilder gebraucht.»

Er hat immer Kleinbildformat fotografiert und hatte beim Fliegen nicht selten bis zu zehn analoge Kameras dabei: «Nicht etwa, weil ich der Technik misstraute, sondern weil es einfacher war, eine zweite oder dritte Kamera zur Hand zu nehmen.» Filme zu wechseln, sei ein zu aufwendiger Vorgang, in der Luft zähle jede Sekunde, ergänzt er. Er hat immer mit Kodachrome gearbeitet: «Bilder, die ich vor 50 Jahren gemacht habe, sind immer noch taufrisch.» Natürlich werden seine Werke beim Vergrössern digitalisiert.

Der Markt habe sich in den letzten 20 Jahren stark verändert, so Gerster: «Früher wurden meine Bilder gebraucht.» Er hat viel für Japan gearbeitet, dort gab es für ein Kalenderbild schnell mal 3000 Franken, summa summarum also rund 40 000 Franken. Heute werde viel weniger für ein Bild geboten, die Bäume wüchsen nicht mehr in den Himmel: «Mit dem Geld, das heute geboten wird, kann ich nicht mal einen Espresso trinken gehen», beschreibt Gerster den Wandel. Grund zur Klage hat Gerster nicht: «Ich habe die besten Zeiten erlebt.» Allerdings würde er es heutzutage nicht mehr wagen, einem Jungen den Fotografenberuf vorzuschlagen: «Um Himmels willen, da ist kein Auskommen mehr.» Er müsse langsam Rücksicht auf sein Alter nehmen, sagt Gerster, der im April 90 Jahre alt wird. «Etwas Spezielles mache ich immer noch gerne, nur das schwere Equipment kann ich nicht mehr alleine tragen.»

Mit 90 nochmals nach China

Gerster hat immer noch täglich mit Fotografie zu tun: «Mein Archiv ist riesig. Es gibt noch so viele Bilder, die ich noch nie angeschaut habe.» Eine Ausstellung in China ist in Planung, das Datum steht allerdings noch nicht fest. Eventuell 2018, im Jahr seines 90. Geburtstages: «Um diese Ausstellung zu komplettieren, würde ich nochmals in die Luft gehen und ein Bild machen.»

Am Schluss des Gesprächs erweist der Winterthurer, der die Luftbildfotografie zur Kunst erhoben hat, dem Kanton seine Reverenz: «Schaffhausen würde ich ohne Weiteres wieder fotografieren, von oben natürlich.»

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