Nur etwa die Hälfte ist Veranlagung

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50 Prozent der adipösen Kinder haben psychische Probleme, sagt Josef Laimbacher. Doch abnehmen könne nur, wer zufrieden und psychisch stabil sei. Bild: Key

Jedes fünfte Kind in der Schweiz ist übergewichtig und jedes zwanzigste sogar stark. Die Anlagen dazu werden teilweise schon vor der Zeugung gelegt, sagen die Spezialisten des Ostschweizer Kinderspitals. Bei den anderen ist die Umwelt entscheidend. Sich gesund zu ernähren, sei trotz all den Ratschlägen, nicht sonderlich schwierig.

Von Bruno Knellwolf

Wann ist ein Kind übergewichtig?

Dagmar l’Allemand-Jander: Unter anderem massgebend sind der Body-Mass-Index (BMI) und der Taillenumfang. Wenn der Taillenumfang grösser ist als die Hälfte der Körperlänge, ist jemand im Risikobereich. Der Fettanteil ist dann zu hoch.

Wie viele Kinder sind zu dick?

Josef Laimbacher: Jedes fünfte Kind in der Schweiz ist übergewichtig. Gesamt sind vier bis sechs Prozent der Kinder adipös, also stark übergewichtig. In den letzten drei bis vier Jahren sehen wir eine stagnierende, eher leicht rückläufige Tendenz.

Warum?

Laimbacher: Die Präventionsmassnahmen der letzten zwei Jahrzehnte beginnen zu greifen, obwohl wir immer noch auf einem hohen Niveau sind. Das ist keine Entwarnung. Man konnte nur die weitere Zunahme eindämmen.

Welche Präventionsmassnahmen sind das?

Laimbacher: Die Massnahmen sind vielfältig. Die Prävention muss so früh wie möglich beginnen. Wir sind Verfechter davon, dass die Vorsorge bereits während der Schwangerschaft und noch besser schon vor der Zeugung beginnt.

L’Allemand: Wenn eine Frau übergewichtig ist, entstehen bestimmte Stoffwechselveränderungen in ihrem Körper. Deswegen bekommen ihre Kinder schon bei der Zeugung auf ihre Erbanlagen einen Stempel aufgedrückt. Kinder übergewichtiger Mütter haben ein Leben lang ein hohes Risiko, Übergewicht und Diabetes zu kriegen.

Laimbacher: Die Last liegt nicht nur bei der Mutter. Auch der Vater kann über die Erbanlagen die Anlagen zum Übergewicht übertragen – und zwar über zwei Generationen.

Und nach der Geburt?

Laimbacher: Entscheidend ist das erste Lebensjahr. Volles Stillen in den ersten vier bis sechs Monaten ist sehr wichtig.

L’Allemand: Stillen hat einen direkten Einfluss auf das Gewicht des Kindes. Gestillte Kinder leiden in den ersten zwanzig Jahren deutlich weniger an Übergewicht als ungestillte.

Wie hoch ist denn der vererbte Anteil beim Übergewicht?

L’Allemand: Etwa die Hälfte ist Veranlagung, die andere Hälfte Umwelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende der 70er-Jahre hat es weniger Übergewichtige gegeben als heute. Und das mit derselben Genetik. Wir bewegen uns zu wenig, es gibt viel Werbung für ungünstige Nahrungsmittel, viele essen falsch.

Es gibt aber Kinder, die aus Veranlagung dick sind?

Laimbacher: Es gibt monogenetische Konstellationen wie auch Hormonstörungen. Die sind aber Raritäten.

l’Allemand: Kinder, die das wirklich in der Erbanlage haben, sind dann mit zwei Jahren schon 20 bis 35 Kilogramm schwer. Da sucht man dann, ob man eine seltene Störung in den Genen findet. Aber das ist seltener als 1:10 000.

Es gibt also kaum Ausreden.

L’Allemand: Es gibt die Veranlagung in einem ungünstigen Umfeld. Es gibt schon Leute, die viel essen und nicht dick werden. Es gibt aber auch Schlanke, die zu viel Fett haben. Die bewegen sich so wenig, dass es ihnen an Muskulatur fehlt und der Fettanteil dann doch zu gross ist. Darüber spricht man zu wenig. Die haben aber genau dieselben Risiken wie Herzinfarkt, Hormonstörungen und Diabetes.

Bei der Ernährung ändern sich die Ansichten, was gesund ist und was nicht, laufend.

Laimbacher: Nein. Das ist klar. Wenn jemand eine optimierte Mischkost mit fünf Portionen Früchten und Gemüse zu sich nimmt, raffinierten Zucker reduziert und auf hochwertige Öle setzt, hat man 90 Prozent von dem gemacht, was man machen kann bei der Ernährung. So bunt wie möglich essen, das ist die einfache Botschaft.

L’Allemand: Nichts ist so komplex reguliert wie das Gewicht und der Appetit. Das ist für das Überleben des Menschen notwendig. Wir sind nicht ausgelegt für diese Umwelt, in der es immer alles gibt. Zu wenig berücksichtigt wird, dass Stress ein erheblicher Faktor ist. Gestresste essen zu viel oder gar nicht. Die einen werden magersüchtig, die anderen übergewichtig und die dritten übergewichtig mit psychischen Problemen.

Laimbacher: Gerade bei schwer übergewichtigen Kindern spielen die psychischen Faktoren eine grosse Rolle. Das geht von Stimmungsschwankungen, Angststörungen bis ADHS. 50 Prozent der adipösen Kinder haben psychische Probleme. Aber abnehmen kann nur, wer zufrieden und psychisch stabil ist.

Wer ist besonders gefährdet?

Laimbacher: Mehrheitlich Menschen aus städtischen Gebieten, Familien aus bildungsfernen Schichten und solche mit Migrationshintergrund. Das zeigt sich zum Beispiel beim Trinken: Kindern mit Migrationshintergrund ist es schwierig zu vermitteln, dass Leitungswasser bei uns gute Qualität hat. Deshalb kaufen sie Getränke im Laden und dann meist Süssgetränke. Und die sind eine der Hauptbelastungen.

Was sind weitere Risiken?

L’Allemand: Je mehr Bildschirmzeit, desto höher ist das Gewicht. Das zeigen viele Studien. Aber gerade bei Mi­grantenkindern gehören Smartphones oft dazu und sind Statussymbol.

Laimbacher: Und meist ist die Bildschirm- und Medienzeit mit Essen verknüpft, mit Junkfood. Dabei wäre ein gesunder Essrhythmus wichtig und nicht das dauernde Snacking.

Wie behandeln Sie am Kinderspital Adipositas?

L’Allemand: Wir haben im Jahr etwa 100 Kinder, die uns von Hausärzten zugewiesen werden. 30 Prozent dieser Patienten haben kein Interesse an einer Behandlung. Die anderen werden in Einzel- oder Gruppentherapien behandelt. Bei Letzterem treffen sich zwölf Kinder wöchentlich, machen Sport und essen zusammen. Ein Therapieblock dauert sechs bis zehn Monate. Die Nachbeobachtung sollte mindestens fünf Jahre dauern, weil Übergewicht eine chronische Erkrankung ist. Generell sollten Betroffene nur ein Kilogramm pro Monat abnehmen, sonst gibt es einen Jo-Jo-Effekt. Bei 30 Kilogramm zu viel dauert das dementsprechend seine Zeit.

Wird auch operiert?

Laimbacher: Ja, es werden in seltenen Fällen Operationen wie Magenbypässe notwendig. Aber wir kämpfen darum, dass kein Kind operiert wird, ohne dass wir es als spezialisiertes Zentrum vorher abgeklärt haben. Bei einem BMI von 45 und mehr kann eine Operation die letzte Therapieoption sein.

L’Allemand: Wir behandeln die ganze Familie und arbeiten auch mit dem Ostschweizer Adipositas-Zentrum für Erwachsene zusammen. 75 Prozent der Eltern übergewichtiger Kinder sind nämlich selbst zu schwer. Ein Viertel davon erkennt das aber nicht. Deshalb müssen alle in die Therapie eingeschlossen werden.

Wie ist die Erfolgsquote?

L’Allemand: Eine nationale Auswertung zeigt, dass etwa 65 Prozent der Kinder eine Verbesserung in verschiedenen Bereichen zeigen. Unabhängig davon, ob sie in Gruppen oder einzeln behandelt werden. Dafür müssen Kinderärzte, Ernährungsberater, Psychologen und Sportlehrer gut zusammenarbeiten.

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